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Der Takt der Bäume – Wann der Zeitpunkt für den Austrieb gekommen ist

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Die Rosskastanien sind bereits kräftig am Austreiben, während sich andere Baumarten noch Zeit lassen. Gut erkennbar an der unbelaubten Linde, die zwischen den beiden austreibenden Rosskastanien steht. Doch warum steht das vordere Exemplar bereits im saftigen Grün, während die hintere Rosskastanie erst zaghaft austreibt?

In unseren Breitengraden überwintern die meisten Bäume mithilfe von Knospen, aus denen sich im Frühjahr neue Triebe und Blätter entwickeln. Wann genau dieser Austrieb stattfindet, hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist genetisch festgelegt. So können die meisten Baumarten einem groben Austriebszeitpunkt zugeordnet werden: Viele Pionierarten und auch die Rosskastanie zählen zu den früh austreibenden ab Ende März, die Mehrheit, darunter auch viele Lindenarten, folgt im April; besonders vorsichtige Arten wie die Stieleiche oder die Buche warten bis Ende April oder sogar Anfang Mai. (vgl. ROLOFF 2009, S. 15)

Dafür bedienen sich Bäume unterschiedlicher «Messinstrumente». In Mitteleuropa ist es meist ein Zusammenspiel aus durchlebter Frostperiode, der Temperatursumme (der aufsummierten positiven Tagesmitteltemperaturen) und der Tageslänge (Photoperiode). Forschungen von FALUSI & CALAMASSI (vgl. 1990) zeigen, dass insbesondere der Frost eine übergeordnete Rolle spielt: Bleibt eine Frostperiode im Winter aus, verzögert sich der Austrieb deutlich – unabhängig von den anderen Faktoren.

Doch auch innerhalb einzelner Populationen derselben Baumart gibt es Unterschiede beim Austriebszeitpunkt. Man könnte die Individuen also ganz in «Wohlleben-Manier» als mutigere oder vorsichtigere Charaktere beschreiben. DELPIERRE et al. (vgl. 2017) konnten zeigen, dass sich diese «Ränge» zwischen den Individuen innerhalb einer Population im Austrieb von Jahr zu Jahr wiederholen und vermutlich auch vererbbar sind. Gleichzeitig spielen jedoch auch kleinräumige Standortfaktoren wie Bodenfeuchte oder Nährstoffverfügbarkeit eine Rolle.

Abschliessend lässt sich sagen, dass diese Mechanismen des Austriebs noch nicht vollständig geklärt sind. Genetische Dispositionen, Umwelteinflüsse und standortspezifische Faktoren wirken in komplexer Weise zusammen und bedürfen weiterer wissenschaftlicher Untersuchung. Unabhängig davon bleibt das jährliche Erwachen der Bäume ein faszinierendes Naturphänomen – nicht nur für die Forschung, sondern auch für die aufmerksame Beobachtung im Alltag.

FALUSI, M. und R. Calamasi (1990): Bud dormancy in beech (Fagus sylvatica L.). Effect of chilling and photoperiod on dormancy release of beech seedlings. In: Tree Physiology. 6(4), S. 429–438
ROLOFF, A. (2009): Bäume. Lexikon der praktischen Baumbiologie. Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer
DELPIERRE, Nicolas et al. (2017): Tree phenological ranks repeat from year to year and correlate with growth in temperate deciduous forests. In: Agricultural and Forest Meteorology, Bd. 234, S. 1–10.